Buenos Aires 2020 - Mein aussergewöhnliches Auslandjahr

Bericht von Carolina Brocal, 4i


Am Montag, 2. März 2020, kam ich in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens, an. Ein
guter Freund meiner Gastschwester holte mich am Flughafen ab und brachte mich zu meiner
Gastfamilie, die daselbst im lebendigen Stadtteil Palermo wohnt. Ich dachte, ich würde
ihn während meines Aufenthalts nur gelegentlich sehen, es stellte sich jedoch das
Gegenteil heraus. Er war einer der Menschen, die ich in Buenos Aires am besten kennen
lernen würde.
In meinem neuen Zuhause wurde ich mit offenen Armen empfangen. Mein ‘Chauffeur’ und
meine Gasteltern verstanden sich blendend, und sie bezogen mich in ihr Leben und ihre
Gespräche ein. Ich fühlte mich vom ersten Augenblick an äusserst wohl.
Das Einleben im argentinischen Alltag war zunächst keine grosse Herausforderung für mich –
bestimmt auch, weil ich spanischsprachig bin –, doch stellte sich leider gleich bei meinem
Vorstellungsgespräch in der Schule heraus, dass diese die notwendigen Formalitäten für
meine offizielle Einschulung nicht getätigt hatte. Das war eine sehr unschöne Überraschung,
hatte ich doch bereits vor Monaten eine vom Rektor selbst signierte Zusicherung des
Studienplatzes erhalten. Darum waren nun dringende Besuche beim Schulsekretariat
und beim Bildungsministerium angesagt..
Der Weg zum Bildungsministerium ist mir sehr geblieben: Das Gebäude liegt inmitten der
Villa 31, eines der grössten Elendsviertel Argentiniens. Es war sehr eindrücklich zu erleben,
wie man sich zwischen heruntergekommenen Verkaufsständen hindurchschlängeln
musste, um zum Ministerium gelangen, das seinerseits durchaus ordentlich und
gepflegt aussah. Auch der Kontrast zwischen dem wohlhabenden Quartier Retiro und der
Villa 31, die nur durch eine Strasse getrennt sind, sprang mir ins Auge und hat einen tiefen
Eindruck in mir hinterlassen.
Allmählich nistete sich das Coronavirus auch in unserem Alltagsleben ein. Bei meiner Ankunft
hatte man noch nicht sehr viel davon gehört, aber schnell wurde klar, dass es etwas
Ernstes werden würde. Es gab während mehrerer Tage Lagerbestandsmangel an Desinfektionsmitteln und sonstigen Hygieneartikeln. Als sich das Coronavirus in Argentinien offensichtlich zu verbreiten begann, führte die Regierung rasch drastische Sicherheitsmassnahmen ein. Bereits eine Woche nach dem offiziellen Schulbeginn, am 16. März, gleichzeitig mit der Schweiz, wurden die Schulen geschlossen, kurz danach begann die Quarantäne, die eine der strengsten Lateinamerikas und die längste weltweit werden sollte.
Der Entscheid traf mich nicht sehr unerwartet, denn meine Familie hatte geahnt, wie die
Regierung reagieren würde. Ich machte mir in diesen Tagen allerdings keine grossen Sorgen,
ich war glücklich in meiner Gastfamilie und dachte, dass mit Ablauf der Quarantäne auch
mein Schulleben seinen Anfang nehmen würde. Bis dahin würde ich das online Schulprogramm
des LG verfolgen.
Mit meinem Gastvater und meiner Gastschwester, die ich in diesen Tagen
besonders gut kennenlernte, schmiedeten wir Unterhaltungspläne: Wir kochten, machten
Musik, zeichneten und sprachen viel miteinander. Wir dachten, diese Ausnahmezeit würde
nur wenige Wochen dauern, doch mit jeder monatlichen Verlängerung wurde immer klarer,
dass dem nicht so sein würde. Und so verbrachte ich auch noch die letzten Tage meines
Aufenthaltes offiziell in Quarantäne. Dennoch wurden einige Einschränkungen im Laufe der
Monate etwas gelockert. Gelegentliche Spaziergänge, Ausflüge in die wunderschönen und
riesigen Grünanlagen der Stadt und Besuche von Kaffees, die draussen über Tische und
Stühle verfügten, waren erlaubt. Ebenso war es ab Juni möglich, von 20h abends bis 9h
morgens draussen zu joggen.
Ich bin und war schon während dieser Monate unbeschreiblich dankbar für
die Zugewandtheit meiner Gastfamilie. Ich wurde fortwährend von meiner Gastschwester
und ihrem Freund unterstützt und in ihre Vorhaben miteinbezogen. Auch mein Gastvater
nahm mich wiederholt in seine Werkstatt ins Stadtviertel La Boca mit, wo er als
Handwerker - vorwiegend mit Leder - arbeitete, und auch mich an Sachen herumwerkeln
liess. Er zeigte mir die Provinz Buenos Aires auf Besuchen zu seiner Familie und erst dort
wurden mir die enormen Dimensionen der Stadt und die Vielfalt ihrer Bevölkerung
bewusst. Und meine Gastmutter, die sonst ununterbrochen arbeitete, nahm sich Zeit, um
mir sowohl kulturelle als auch politische und soziale Aspekte näherzubringen. Mit ihr hörte
ich viel klassische Musik und ich genoss es unglaublich, wenn sie mir von alten Kulturen – sie
ist Dozentin und Psychonanalytikerin sowie Expertin für heilige Texte aus der Antike – und
deren Schriften erzählte sowie mir interessante Aspekte der Psychologie näherbrachte. Dank
meiner Gastfamilie konnte ich, aller Einschränkungen zum Trotz, Buenos Aires, oder
zumindest ihre verschiedenen Sichtweisen darauf, kennenlernen, und mir ein Bild seiner
Kultur machen.
Allerdings lernte ich auch sehr viel im Unterricht meines Gymnasiums – ein anderes als das
anfänglich vorgesehene –, das mich ab Juni in sein Fernprogramm aufnahm. Vor allem die
Literatur- und Sprachstunden waren äusserst spannend, da der Lehrer uns anregte, Verknüpfungen zwischen schon Gelerntem und Neuem zu suchen. Es gab ausserdem ein Fach namens ‘ethische und politische Bildung’, in dem viele aktuelle Ereignisse und Debatten behandelt wurden. Ich war sehr erfreut zu erleben, dass sich so viele junge Porteños für Feminismus und anderen politischen Bewegungen interessierten. Auch in anderen Fächern lernte ich viele neue Dinge, konnte aber auch schon Gelerntes repetieren und aus einer anderen Perspektive betrachten.
Mein Aufenthalt in Buenos Aires hat dazu beigetragen, dass ich die Welt aus einem anderen
Blickwinkel sehe. Es ist eine ganz andere Kultur als jene, die ich aus der Schweiz kenne,
und dies hat meinen Horizont deutlich erweitert.
Argentiniens Bevölkerung wird unter anderem durch die Bürokratie und das politische
Chaos in den Wahnsinn getrieben. Dennoch überwiegt die Spontanität und Offenheit im
Umgang miteinander. Auch die Diktatur hat die Menschen sehr geprägt, dies wird spürbar an
ihrem starken Kampfgeist. Sie nehmen an Demonstrationen teil, wenn sie mit einer
politischen Entscheidung nicht einverstanden sind, und setzen sich für die Durchsetzung ihrer
Ziele ein.
Doch am meisten denke ich an meine liebenswürdige, offene Gastfamilie und
verspüre den Wunsch, eines Tages nach Buenos Aires zurückzukehren und diese Stadt und
das Land unter normaleren Umständen zu erkunden.

Carolina Brocal
Zürich, 18. Oktober 2020